INTENSIVMEDIZIN
EINE INTENSIVE BEZIEHUNG
Hilmar Wirthmann war der erste Covid-Intensivpatient in Lohr und überlebte knapp. Zusammen mit seiner Ärztin Dr. med. Susann Walz blickt er zurück.
Die Wirthmanns sind auf der Intensivstation des Klinikums Main-Spessart in Lohr gern gesehene Gäste.
„Ich bin mit meinem Los zufrieden, schaue wenig nach hinten, immer nach vorn.“ Das sagt Hilmar Wirthmann heute, zweieinhalb Jahre nach seiner Corona-Erkrankung, die er nur knapp überlebt hat. Der heute 64-Jährige war der erste Patient, der wegen Covid-19 auf der Intensivstation des Klinikums Main-Spessart in Lohr aufgenommen wurde. Vier Wochen, die fehlen „Enorme Atemprobleme“ waren es, die ihn damals, im März 2020, den Notarzt rufen ließen. Doch der schätzte die Situation falsch ein und meinte, ein Antibiotikum würde die Sache wieder richten. Zwei Tage später musste der Hausarzt dann erneut den Rettungswagen rufen, der Hilmar Wirthmann ins Klinikum nach Lohr bringt. „Ich glaube, es war Frau Dr. Walz, die mich dort in Empfang genommen hat. Aber das habe ich nicht mehr so in Erinnerung“, berichtet der frühere Berufssoldat und Bundespolizist aus Aura im Landkreis Main-Spessart. „Herr Wirthmann, wir müssen Sie jetzt intubieren, sonst haben Sie keine Chance.“ Diese Worte haben sich eingeprägt bei ihm. Einen Anruf bei seiner Frau konnte er gerade noch tätigen. „Das wars dann.“
Auf dieses Telefonat folgen knapp vier Wochen im Leben von Hilmar Wirthmann, an die er keine Erinnerung hat. Erst in der Aufwachphase setzt das Gedächtnis wieder ein, in Form von Flashbacks während der Reha. Er erinnert sich an Albträume, wie jemand versucht, ihn aus einem Boot zu werfen. Das Boot – das realisiert er später – war in Wirklichkeit das Intensivbett. Und bei den Menschen, die ihn im Traum ins Wasser werfen wollten, handelte es sich um Intensivpflegekräfte beim Umlagern zwischen Bauch- und Rückenlage.
„Wer waren eigentlich die Menschen, die mich betreut haben?“
Hilmar Wirthmann
Materialkosten explodiert Im Gegensatz zu Hilmar Wirthmann kann sich die leitende Oberärztin Dr. Susann Walz noch sehr gut an die vier Wochen erinnern. „Besondere Schicksale bleiben immer haften – oder besondere Umstände wie zum Beispiel der erste Corona-Patient.“ Dass sie eine Situation wie diese einmal erleben würde, hätte sie sich nicht ausmalen können. Die Angst, was wird, wenn man plötzlich ohne Schutzkleidung dasteht. Für einen Cent-Artikel wie eine Maske drei Euro zu bezahlen. Sich im Baumarkt mit Material einzudecken. Die Sorge, das Virus mit heimzubringen und die eigenen Angehörigen anzustecken. Und natürlich die medizinische Situation der Covid-Patienten. „Künstliches Koma und Beatmung sind massive Eingriffe in den Körper. Durch Covid kamen weitere Risiken hinzu. Da standen wir alle sehr unter Druck“, so die Intensivmedizinerin.
Hilmar Wirthmann ist heute nicht wieder der Alte. Vor der Covid-Erkrankung war er kerngesund. Aber er sagt sich: Dann läuft er eben nur 1000 Meter und nicht 5000 Meter. Und er hat erkannt, dass er großes Glück hatte. „Die Wahrscheinlichkeit, das zu überleben, war nicht besonders groß.“ Irgendwann im Laufe seiner Genesung hat ihn dann die Frage beschäftigt, wer eigentlich die Menschen waren, die ihn betreut haben in diesen Wochen. Wie war das mit dem Lagern auf den Bauch, mehrfach am Tag?
Die psychische Seite wurde lange vernachlässigt Dass solche Fragen bei vielen Intensivpatienten auftauchen, weiß Dr. Susann Walz. Und auch sie hat irgendwann gemerkt: Sie hat das Bedürfnis zu erfahren, was aus ihren Patienten geworden ist. Das Intensiv-Team ist deshalb dazu übergegangen, Follow-up-Gespräche anzubieten. Die Patienten bekommen mit dem Entlassbrief einen Termin in drei bis sechs Monaten. Der Hintergrund, so Dr. Walz: „Die Medizin hat sich lange Zeit nur mit den körperlichen Aspekten dieser schweren Erkrankungen beschäftigt. Aber inzwischen weiß man, dass es sehr komplex ist, was mit den Patienten passiert.“ Viele von ihnen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung. Man spricht auch vom Post-ICU-Syndrom, also vom Post-Intensivstation-Syndrom, das sogar Angehörige betreffen kann.
Die strukturierte Nachbesprechung ist deshalb ein wichtiger Baustein der modernen Intensivmedizin, die von den meisten Patienten auch wahrgenommen wird. In Lohr werden unter anderem Intensiv-Tagebücher eingesetzt, in denen das Team aufschreibt, was passiert ist, während der Patient bewusstlos war. Später wird das Tagebuch übergeben – und beim Nachgespräch gezielt abgefragt, ob es Albträume, Flashbacks, Schlafstörungen, unangenehme Erinnerungen oder Bedarf für eine psychotherapeutische Behandlung gab. Aber auch ein Besuch beim Team gehört zu diesem Termin immer dazu. „Für uns ist das sehr wichtig, weil wir die Chance haben, die Person, die wir nur schwer krank kennen, in einem ganz anderen Zustand erleben zu können. Wenn man sieht, was man geschafft hat, ist das motivierend“, so Dr. Walz.
„Besondere Schicksale bleiben immer haften“
Dr. Susann Walz
Ab und zu bringt er Kuchen vorbei Hilmar Wirthmann hat die Gelegenheit, das Intensiv-Team zu besuchen, gerne angenommen. „Mir hat das sehr viel gegeben. Ich habe meine Lebensretter kennengelernt.“ Inzwischen hat er fast eine freundschaftliche Beziehung zur Intensivstation entwickelt und beschenkt sie immer mal wieder mit Kuchen – aus Dankbarkeit, aber auch aus Respekt vor der schweren Arbeit. Nur auf dem Balkon klatschen, das fand er zu wenig. Und für Querdenker und Coronaleugner hat er erst recht kein Verständnis.
Ähnliche Gefühle hat auch Hilmar Wirthmanns Ehefrau, die wegen der Quarantänebestimmungen nur telefonisch mit der Intensivstation Kontakt halten konnte: „Ich bin heute noch dankbar, dass das so gut gelaufen ist.“ Immerhin einmal konnte sie ihren Mann besuchen, weil vom Team der Intensivstation eine Ausnahme gemacht wurde. Rückblickend die richtige Entscheidung, so Dr. Susann Walz: „Angehörige müssen unbedingt Zugang zu Intensivstationen haben. Wir mussten in der Pandemie schmerzhaft lernen, dass das Schlechteste ist, was passieren kann, wenn jemand allein im Krankenhaus sein muss.“ Die Regeln seien zwar streng gewesen, aber in besonderen Fällen gebe es Spielraum für Ausnahmen. „Und den haben wir auch genutzt.“